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  • AutorenbildIngo

In der heiligen Stadt . . .

Aktualisiert: 16. März

13. März 2024 - Varanasi

KM 20.428


Durch zwei schmale Gassen führt uns der Weg vom Hotel zum Ganges. Hoch oben, über dem Flussbett tront die heilige Stadt Indiens. Wir sind in Varanasi angekommen, einer der letzten großen Etappenzielen auf unserer Route durch Indien. Ich hätte auch nicht gedacht, dass es mir jemals wieder vergönnt sein würde, zumal an meinem 55. Geburtstag, über dem Ganges zu stehen und auf die Ghats zu schauen. 15 Jahre ist das nun her, dass ich das erste Mal hier war. Wie immer, vergleicht mein Kopf natürlich sofort die Erinnerungen von damals, mit der tatsächlichen Realität von heute ab. Aber natürlich gehen die Uhren in Europa so, in Indien funktioniert das Leben so nicht, so viel ist mal sicher!


Nun muss ich gestehen, dass ich gar nicht so recht weiß, wo ich anfangen soll zu erzählen. Varanasi ist nicht Indien, aber es gibt keine Stadt, die so indisch ist, wie Varanasi! Schwierig, wirklich. Varanasi hat die beeindruckenste Spiritualität, die man sich denken kann und ist oftmals so profan dabei. Außerdem liegt hier Glückseligkeit und tief betrübtes Leid so nahe beieinander, das es schwer ist, eine Grenze zu ziehen. Für die Hindus ist es gleichermaßen der Anfang, also der Ursprung und auch das Ende. Indien ist eines der kontrastreichsten Länder, die wir je bereist haben, aber Varanasi ist ein einziger Kontrast, im Hinblick auf so ziemlich Alles.



Aber vielleicht fange ich mal mit den einfachen Dingen an. Varanasi ist alt, aber so richtig alt. Mit mehr als 3.500 Jahren, ist Varanasi die älteste, durchgehend bewohnte Stadt der Welt. Angefangen mit kleinen Siedlungen, über größer werdende, religiöse Zentren, eine zeitweise vollständige Islamisierung, bis zu seinem heutigen Moment, das Heiligtum der Hindus zu sein. Der Hinduismus kennt 8,4 Millionen verschiedene Zustände des Lebens. Wow, kein Wunder, dass



ich Schwierigkeiten habe, das Thema Varanasi zu fassen. Alles in dieser Stadt ist eng verwoben mit dem Fluss, dem Ganges. Der gläubige Hindu soll mindestens dreimal in seinem Leben im Ganges gebadet haben, nach der Geburt, nach der Hochzeit und nach dem Tod. Diese spirituelle Maxime führt jeden Menschen, der hier wohnt oder der diese Stadt besucht, unweigerlich zu den Ghats. Der Begriff "Ghat", bedeutet auf Hindi „Flusslandungstreppe“ oder „Gebirgspass“. Außerdem bezieht sich der Begriff auch auf Flussufer, die zu religiösen Flussreinigungen



künstlich angelegt wurden. Von unserem Hotel in der Altstadt, führen einige enge Gassen zu den Ghats, die nahezu den gesamten alten Stadtkern, entlang des Ganges säumen. Offiziell kann man in Varanasi 84 Ghats benutzen, um zum oder in den heiligen Fluss zu gelangen. Die Stufen führen meist steil hoch, die eigentlich Stadtbebauung liebt gut 20 Meter oberhalb der untersten Steinstufen. Die Stufen reichen so tief in den Fluss, dass der gläubige Pilger bei jedem Wasserstand seine heiligen Waschungen durchführen kann. Die Ghats sind alle unterschiedlich frequentiert. In den vergangenen Jahren hat die Stadtverwaltung am Hauptghat im Zentrum,



nahe des großen Hindutempels, 400 Altbauten weggerissen und dort eine Sandsteinmonströsität hingeflanscht, mit episch breiten Treppen, modern gestalteten, minimalistisch, formalen Sandsteinflächen, die eher an einen minderbegabten Bauhausjünger erinnern, denn an eine knapp 4000 Jahre alte, historisch gewachsene Stadt. Nun hat Varanasi 1,2 Millionen Einwohner und vermutlich täglich ebensoviele Pilger, Reisende und ausländische Touristen. Die Gassen der Altstadt sind so eng und auch die Fortbewegung dort erschwert sich, aufgrund der uneben verlegten, asymmetrischen Steinplatten. Da die Fassaden mit jedem Stockwerk weiter hervorkragen, kann man häufig aus der Gasse kaum den Himmel sehen. Das Gewirr der Gassen mutet an, wie die weit verzweigte Deltalandschaft des Ganges, bevor er in den Golf von Bengalen mündet. Unübersichtlich und immer voller Leben. In anderen Ländern



hätte ich "voller Menschen" geschrieben, doch hier ist ja, zumindest aus hinduistischer Sicht, die Zustandsform des Lebens ziemlich uneindeutig. Sadu Priester, in ihren verwaschenen orangeroten Tüchern, ziehen schon morgens bettelnd ihre Runden durch die Altstadt, Kühe sind omnipräsent, Hunde faulenzen, nach anstrengender Nacht, in Nischen oder auf Motorradsitzen



herum, Straßenkehrer schieben ihre windschiefen, laut rumpelnden Karren über das unebene Pflaster. Schmale, enge Läden sind den Hauswänden vorgesetzt, häufig nochmal einen halben Meter über dem Boden und oft so wenig tief, dass der darin arbeitende Ladenbesitzer, mit der halben Pobacke aus dem Ladenlokal hängt. Ähnlich der kritischen Situation im indischen Verkehr, wo man niemals seine Arme oder Beine aus dem Taxi strecken oder halten sollte, müssen auch die Verkäufer hier, immer auf der Hut sein, denn der krasse Zweiradverkehr setzt



sich ungerührt hupend in der Altstadt fort. Besonders morgens ist der Gestank von Müll, Unrat und Exkrementen besonders scharf, doch schließlich sind wir in einer alten Stadt, da darf man einfach keine hygienetechnischen Wunder erwarten. Schließlich ist man in Varanasi auf spirituelle Wunder spezialisiert, nicht auf Sanitäre. Diesen Sender des europäischen Gehirns muss man ausschalten, wenn man hierher fährt, sonst wird man frustriert und findet in der sprichwörtlich gebotenen indischen Suppe, stets ein Haar oder auch einen Kuhfladen. Hat man die Ghats erreicht und stakst die sehr steilen indischen Normstufen, jedweder Höhe, hinab zur "Uferpromenade", geht der Angriff auf die Sinne buchstäblich ungebremst weiter. Der Sinn einer Pilgerreise nach Varansi liegt darin, sich im Ganges zu reinigen. Daher herrscht dort ausgelassene Stimmung, besonders in Nähe des Gate Nr. 4, was in direkter Straßenverbindung



zum großen Hindutempel liegt. Menschenmassen strömen die Treppenstufen hinunter, vorbei an kleinen Schreinen, Zuckerwatteverkäufern, wild bemalten Gurus, mit ihrer Jüngerschar, Ständen mit Gebetsperlen und kleinen Wasserkanistern. Rückwärtig erheben sich stets massige hochaufragenden Wände, aus denen sich die Treppenstufen der Ghats, trichterförmig zum Fluss hinunter ausbreiten. Hier ist es laut, hier herrscht keine gesetzte oder auch keine devote, religiöse Stimmung unserer Kirchen. Hier ist man ausgelassen, warum auch nicht, denn für die meisten Pilger ist das die Erfüllung eines Lebenstraumes. Es gibt Umkleidekabinen



und inzwischen halten auch Kunststoffschwimmelemente den gröbsten Dreck auf der Wasseroberfläche zurück. Männer und Frauen jeden Alters, streben zum Fluss hin. Die Männer nur noch im Lendenschurz, die Frauen in einer Art Schwimmsari. Mit Blumengestecken bewaffnet, geht hier das ein oder andere Paar, Hand in Hand die letzten Stufen

zu den heiligen Wassern. Selten habe ich soviel Glückseligkeit auf den Gesichtern von Menschen



gesehen, wie hier, in dem lauten Gewühl der Massen. Sie sind am Ziel ihrer Träume, als sie in die reinigenden Fluten des Ganges treten. Mit geschlossenen Augen tauchen sie unter, mit einem Kupfer- oder Messinggefäß gießen sie sich Wasser über das Haupt und nehmen anschließend einen tiefen Schluck des reinigen Gangeswassers. Wen stört da schon die tote Kuh, die da zwei Meter weiter aufgebläht zwischen zwei Ruderbooten dümpelt. Oder auch der ganze Unrat, der wenige Meter weiter von einem Müllmann einfach in den Fluss gefegt wird?




Doch, wie gesagt, diesen Teil seiner Wahrnehmung, muss das Bleichgesicht ausschalten, sonst kann man Indien und besonders den Besuch in Varanasi nicht genießen. Aber, ich gebe zu, dass es mir manchmal wirklich schwer fällt, diesen krassen Kontrast, zwischen ästhetischer Vollendung und totaler Unästhetik zu ignorieren und all den Dreck und Schmutz aus meinem Kopf auszublenden. Natürlich kommt außerdem hinzu, dass der Ganges ja nicht nur in Varanasi hochgradig verschmutzt wird, sondern schon in ganz Indien. Mehrere 1000 Kilometer werden



Chemikalien, Düngemittel, Hygieneabwässer aller Art, Schwermetalle, pharmazeutische und petrochemische Abwässer, Schmierstoffe, usw. eingeleitet. Vielleicht stelle wir uns mit der toten Kuh einfach nur an, die lediglich zwei Meter von der "Schwimm- und Trinkstelle", aufgebläht an der Oberfläche vor sich hinrottet und gart. Hinzu kommt außerdem noch die Komponente, neben dem hinduistischen Glauben an den Ursprung des Lebens, dass der Tod in Varanasi, dem hinduistischen Ideal des Lebenszyklus entspricht. So schwimmt nicht nur die Asche beim Baden oder Trinken des heiligen Wassers vorbei, sondern auch schon mal ein ganzer Korpus. Hinter dem Hauptghat am Gate 04, befindet sich eine der Verbrennungsstellen. Erkennbar ist das an den Massen von geschlagenem Sandelholz, was bis tief die angrenzenden Gassen der Altstadt



gelagert wird. An verschiendenen Stellen stehen große Waagen, um die 400 Kilogramm Holz abzuwiegen, die benötigt werden, um einen Leichnam zu verbrennen. Zusätzlich gibt es überall Räucherpulver zu kaufen, was beim Verbrennen für einen weniger üblen Geruch sorgen soll. Etwa 100 Euro kostet das Holz umgerechnet und viele, besonders ärmere Menschen, sparen ihr ganzes Leben darauf, diesen Betrag zusammen zu bekommen, damit ihre Seele in Varanasi



nach hinduistischen Ritus, die sterbliche Hülle verlassen kann. Hier ist es eng, die Feuer brennen heiß, doch wir verzichten aus Pietätsgründen, paparazzimäßig die Verbrennung und auch die damit verbundene Trauerfeierlichkeiten der Menschen zu fotografieren. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es hier bis zu 250 Verbrennung pro Tag gibt, wobei die Zeit von Sonenaufgang bis Sonnenuntergang gerechnet wird. Varanasi ist eine touristische Packung, ganz klar. Überall sitzen, hocken, liegen oder stehen Menschen herum, wir sind keine Sekunde allein. Die alten Häuser, mit ihren verwinkelten Mauern, Nischen und Treppen, die irgendwo im



Zwielicht des nachmittäglichen Schattens verschwinden, verhindern, dass man ein klares Bild oder eine Übersicht über das Geschehen bekommt. Pittoreske Läden, seltsam gekleidete Menschen oder auch Situationen, führen uns erneut vor Augen, in welch einer strukturierten und klaren Welt wir leben, die vielleicht wesentlich hygienischer, sauberer und scheinbar priviligierter ist, dennoch viel ärmer an Licht, Farbe, Legenden und dem irrationalen Lächeln orientalischer Unergründbarkeit des Lebens. Im Gegenlicht der Nachmittagssonne führen Dunst





 

und der Rauch, unzähliger köchelnder Chaikessel, zu einer mystischen Atmosphäre, die außerdem noch von 1000 Paar dunklen Augen unterstützt wird. Unser Nachmittag ist wirklich sehr kurzweilig, doch auch unfassbar anstrengend für die Sinne. Da hilft nur ein Geburtstagsdinner in Aadha-Aadha-Cafe. Französich-indische Leckereien, auf Wunsch auch wenige chilehaltig (!), locken uns auf die erhöhten Dächer oberhalb der Ghats. Varanasi ist



faszinierend und abstoßend zugleich. Es ist intellektuell einfach nicht greifbar und unserem Lebenskontext so fern, dass man einfach Zeit braucht, um all das Schöne und Irrationale zu verarbeiten. Bonne nuit folks!







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