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  • AutorenbildIngo

Der Moment des Brahma . . .

Aktualisiert: 20. März


15./16. März 2024 - Varanasi

KM 20.428


Der Moment im morgendlichen Zwielicht, wenn die gläubigen Hindus im Wasser des heiligen Flusses stehen, die rituellen Waschungen vornehmen und sich ganz ins Gebet versenken, wird "der Moment des Brahma" genannt. Genau zwischen Nacht und Tag, es ist weder kalt, noch warm, genau zwischen Mond und Sonne, ist der Moment Brahmas, des Schöpfers. So formuliert es Raj, einer unserer beiden Gastgeber. Wir finden, dass das genau spiegelt, was wir gestern und heute Morgen an den Ghats erlebt haben. Gestern morgen bin ich früh an den Ghats,



lange vor Sonnenaufgang. Es herrscht keine richtige Dunkelheit mehr, doch Morgenlicht ist es auch noch nicht. Im Osten liegt ein fahler, graublauer Schleier über der massigen Sandbank, die trockenheitsbedingt, Varanasis Altstadt gegenüberliegt. Es ist Freitagmorgen und die heilige Stadt erwacht gerade. Verschlafene Gesichter, streunende Hunde und abgerockte Sadus taumeln förmlich über die verdreckten Sandsteinflächen der Ghats. Es ist kühl, aber nicht kalt.


Vom träge fließenden Ganges, weht modrige Luft herüber. Ein paar versprengte Bleichgesichter, wie ich, bewaffnet mit Kameraequipment, schlendern entlang der alten Mauern und Steine, die im Zwielicht des Morgens, leise Legenden von vergangenen Zeiten zu flüstern scheinen. Hier und da klingt das wütende Brüllen eines Ochsen, von den Schlammigen Teilen des Ufers zu mir herüber. Ein leicht orangefarbener Schleier kündet vom bevorstehenden Sonnenaufgang. An den untersten Stufen, haben ältere Männer und Frauen, die offenkundig täglich hierher kommen



bereits ihre "Badetasche", oftmals ein geflochtener Bastkorb, abgestellt, sich entkleidet und treten mit dem kupfernen Trinkgefäß, vorsichtig auf die ersten, wasserüberspülten Stufen in den Fluss. Ich lasse mich irgendwo auf einer Treppenstufe nieder, denn nun ist der neue Tag nicht mehr fern. Flussabwärts, von den populäreren Ghats her, schallt dumpf eine eintönige Melodie von Trommeln und Zimbeln herüber. Untermalt wird die monotone Musik von Hunderten von unverständlichen Murmeleien der, immer größer werdenden Menschenansammlung. Dennoch zeugt der Moment von höchster Spiritualität, fehlen doch noch



die ganzen Zuckerwatteverkäufer, die mobilen Chaiköcheleien oder die ausgemergelten, bettelnden Sadus, die mit Asche oder Pigmenten ihrem Gesicht und Körper eine skurrile Bemalung verpassen. Über der Sandbank schiebt sich eine neon-orangefarbene Sichel aus dem Dunst. Ein wahrhaft unwirklicher Moment, zumindest aus farbtechnischer Sicht. Während der Morgendunst oder auch Smog, aus einem Verlauf von Grau-, Blau- und Rottönen zu bestehen scheint, erscheint der Sonnenball, wie eine angeschaltete Neonglühbirne. Faszinierend. Während ich da gebannt nach Osten schaue, muss ich mehrfach abgerockte Männer verjagen, die unbedingt ihren Schwarzen Afghanen an mich los werden wollen. Erst, als ich mit der



Touristenpolizei drohe, verziehen sie sich. Die "Geburt" des neuen Tages dauert nur wenige Minuten und das Farbspiel ist sagenhaft. Auf dem Fluss scheint mit einem Mal eine ganze Flotte von Touristenbooten in See gestochen zu sein. Ähnlich wie in Varanasis Gassen und Hauptstraßen, geht auf dem Fluss auch alles kreuz und quer. Kleine Ruderboote queren den Fluss zur Sandbank, wo ebenfalls rituelle Bäder genommen werden, oder man ganz einfach das dargebotene Entertainmentprogramm, wie bspw. einen Kamelritt, nutzt. Die großen Hotels



haben alle eigene Boote, massig und schwerst motorisiert, legen sie, beladen mit verschlafenen Reisegruppen, die scheinbar gerade vom Buffet zum Boot gestolpert sind, vom Ufer ab, Richtung Flussmitte. Dazwischen schaukeln in den wogenden Bugwellen der Hotelschaluppen, kleinere Ruderboote, deren marode Holzwände nur noch unzureichend kalfatert sind. Wir sind in der heiligen Stadt, selbst wenn das Boot absäuft und man zwar nicht ertrinkt, sondern stante pede



an der Schwermetallbelastung des Wasser verstirbt, hat man immer noch spirituelles Glück. Denn nur wer in Varanasi stirbt, kann dem vorgeschriebenen, unendlich wiederkehrenden Kreislauf des Lebens entfliehen und sich auf eine Sondertour machen. Zumindest steht es so geschrieben, dass der Tod in Varanasi nahezu eine Garantie für die Wiedergeburt als Mensch ist.

Das dumpfe Nageln der Dieselmotoren schallt hoch zu den Ghats und mischt sich in die fröhliche, aber gleichermaßen andächtige Stimmung der Pilger. Menschen sitzen meditierend in der Morgensonne, überall vollziehen Menschen jeden Alters die reinigende Waschungen, doch



trotz dieser Stimmung, die einen unweigerlich in den Bann ziehen muss, zucke ich immer noch zusammen, wenn die Gläubigen einen tiefen Schluck aus ihren Trinkgefäßen nehmen. Vielleicht bin ich einfach nicht zum Hindu geboren. Raj, unser Hotelier meint, dass unser Problem "die Zeit" sei. Wir seien so abhängig von diesem "Ding", dass es uns den Blick für das wahre Loslassen der Dinge und auch eine naturbezogene Erkenntnis des Wahrhaftigen verstellt.





Aha, so so - das mag sein, aber Schwermetallbelastung, bleibt Schwermetallbelastung. Die Ghats sind jetzt voller Menschen, ein Gewusel aus den unterschiedlichsten Glaubensrichtungen des Hinduismus. Priester, Gurus oder Sadus predigen, meist wild bemalt im Lotossitz, unter schattenspendenden Sonnenschirmen. Einfache Menschen vom Land, die eigens für die Reinigung ihrer Seele nach Varanasi gekommen sind, hocken gebannt zu Füßen der seltsam anmutenden Figuren, die spirituelle Fachkompetenz zu vermitteln scheinen.




Es herrscht keine Klarheit, keine Struktur, das Erleben der Ghats bringt dem Bleichgesicht nur ein Wimmelbild eines tiefen Glaubens, dass sich uns nicht mal in Ansätzen erschließen mag. Die Menschen streben zum Fluss, nur dass zählt - das Ende einer Reise und gleichermaßen ein seelisches Resetting. In offenkundiger Glückseligkeit zählt nur der Wille, seinem Schicksal entsprechend, einen "gereinigten" Neuanfang des eigenen Daseins zu erlangen.



Wen diese Stadt nicht in seinen Bann zieht, der hat von den Menschen hier nichts begriffen. Natürlich ist es schwer, die begleitende Jahrmarktstimmung, besonders die nervigen Verkäufer und bettelnden Sadus, auszublenden. Doch, zwischen all dem billigen, spirituellen Kommerz, sind die seligen Glücksmomente der Pilger so ansteckend, dass man einfach nicht umhin kommt, sie für ihren unverrückbaren Glauben zu bewundern.




Raj ist am Fluss groß geworden, auf einem Boot, doch seine Gedanken sind von bestechend einfacher Klarheit, zeugen von einem tiefen Verständnis der Unabänderlichkeiten des Schicksals, einem dezidierten Moralverständnis und dessen Wichtigkeit für die strukturelle Balance der Welt. Für ihn ist "der Moment des Brahma" die magische Quintessenz des Daseins. Sein Tag beginnt damit. Also buchen wir für heute Morgen eine Flussfahrt, um das Erwachen der heiligen Stadt vom Fluss aus zu erleben. Raj bringt uns durch die verschlafenen Gassen



zum Bootsanleger. An den Ghats angekommen, verbeugt er sich vor dem Fluss, der ihn schon sein Leben lang begleitet, Stabilität und auch Gelassenheit zugeben scheint. Ein alter Mann, kaum 1,60 Meter groß, wird uns heute entlang der Ghats paddeln. Dabei wollen wir nicht der Touristenroute folgen, sondern selbst bestimmen, wo wir anhalten. Heute ist es wesentlich voller und auch lauter, als es gestern Morgen der Fall war. Schließlich ist Samstag und die Anzahl der Hotelgäste hat sich wohl seit gestern Abend verdoppelt. Die Stimmung hat einen





anderen Beigeschmack. Zumindest empfand ich es gestern morgen als viel familiärer, gelassener und auch unverkrampfter. Aber um kurz nach 6 sind die Hauptghats schon so voll, dass man eigentlich keine freie Fläche mehr sieht. Lediglich die letzten Treppenstufen sind den Waschungen vorbehalten, weshalb dort noch Platz zu sein scheint. Auch der Sonnenaufgang ist heute morgen anders. Über Nacht ist leichte Bewölkung aufgezogen und kündigt für die




kommenden Tage, die ersten - möglichen - Regenfälle an. Es ist auch stetig heißer geworden, das Thermometer zeigt tagsüber meist bis zu 36 Grad. Doch dann dringt die Sonne doch noch durch die Wolken, die Badenden schließen ihre Augen und neigen sich zur Sonne hin. Wir mögen Raj Bezeichnung für diesen Moment sehr, "Der Moment des Brahma!" Egal, wie spirituell ein Mensch veranlagt ist, jenes seelische Zwischenspiel, was sich im morgendlichen Zwielicht auf den Gesichtern der im Wasser stehenden Menschen abzeichnet, kann einen nicht kalt lassen. Hoffnung, Freude, Glück und ein positives Zukunftsgefühl. Keine 100 Meter weiter




löschen bunt bemalte Lastenkähne ihre Sandelholzladungen, die für die Kremationen der Toten vorgesehen sind. Es ist bereits Tag und damit brennen die Feuer schon. Über dem Verbrennungsplatz flimmert die Luft und die Hitze wabert über die dunkelgrüne Wasseroberfläche des Ganges zu uns her. Der Kontrast könnte nicht größer sein, zumindest nicht für uns. Im Angesicht des Todes sieht der Hindu in der Verbrennung des Körpers nur noch das "Auflösen" der sterblichen Hülle, ist die Seele des Menschen doch längst wieder in den



ewigen Kreislauf der Wiedergeburt eingetreten. Letztendlich hat der Verstorbene seinen Lebenstraum erfüllt bekommen und konnte, durch den Tod in Varanasi, sein Schicksal leicht mit beeinflussen. Wie anders doch Menschen sich mit ihrem Lebenszyklus auseinandersetzen. Auf den anderen Booten, quasseln Tourguides die ganze Zeit in die situative Stille der Szenerie rein und ich bin froh, dass unser Bootsführer kein Wort Englisch spricht und wir so, sehr viel Raum haben, unseren Gedanken nach zu hängen.




Als der Morgen seine "Unschuld" verloren hat und die Sonne höher steigt, beherrscht die Ghats nur noch dichtes Gedränge. Zugegeben, der Zauber des "Moments des Brahma" ist verschwunden. Aber auch dazu hat Raj eine gute Theorie. Man verbringe einfach ausschließlich in den losgelösten Momenten des Morgens, zwischen Nacht und Tag, zwischen Dämmerung und



Sonnenaufgang, zwischen warm und kalt und zwischen Mond und Sonne, Zeit am heiligen Fluss und den Rest des Tages läßt man den Ganges los. Denn schließlich spiele für die Natur die Zeit keine Rolle, der Fluss fließe beständig weiter und ein Berg stehe morgen immer noch in der Zwischendimension des Lebens. Wozu sich aufregen! Was soll ich sagen? Wunder über Wunder des Orients! Bonne nuit folks!








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